Samstag, 21.november 2015, 18 Uhr
“tsuya studies” für Stimme und Tanz
Ausstellung „schriftbilder“ von Anna Maria Bürgi
tsuya studies für Stimme und Tanz, stellt eine Vorarbeit für den vierten Teil der Jenseitspentalogie, tsuya (Nachtwache), dar.
Ein sehr persönlicher und wichtiger Bezug der Komponistin zu japanischer Kultur und Religion besteht seit ihrer Kindheit: Durch ihre Mutter, die Malerin und Zazen-Praktizierende Anna Maria Bürgi, wurde sie früh mit der strengen Meditationspraxis des Zazen und der abstrakt erweiterten Kalligraphie vertraut gemacht, die so auch Teil ihres eigenen Lebens wurden. Das Bühnenbild von „tsuya“ soll aus diesem Grund mit den Bildern der Malerin gestaltet werden. Im Atelier zeigen wir an diesem Wochenende bereits eine Auswahl an neuen Schrift-Bildern der Malerin.
Im Mittelpunkt dieses vierten Teiles der Pentalogie steht tsuya, die nächtliche Totenwache der Verwandten und Freunde des/der Verstorbenen. In Fortsetzung der künstlerischen Recherchen zum ersten, zweiten und dritten Teil der Pentalogie, Tante Hänsi, Rithaa und shiva for anne liegt der Fokus nun auf Toten- und Trauerritualen des Buddhismus und Shintoismus. Hieraus soll für tsuya eine musikalische Form für Kammerensemble entwickelt werden.
Wir zeigen eine Studie für Tanz und Stimme, die mit einem einzigen haiku [1] – in deutscher sowie in japanischer Sprache – arbeitet und dieses in zwölf verschiedenen Variationen vertont.
Blätter fallen nie
vergebens – überall
der Klang der Glocken
uso ni chiru
ha mo nashi yomo no
kane no koe
嘘に散る 葉も無し四方の 鐘の声
Das haiku stammt aus einer Sammlung von Todesgedichten japanischer Zenmeister_innen.
Das für die Komposition ausgewählte stammt von
CHORI, Zenmönch,
gestorben am neunzehnten tag im zehnten monat 1778 im alter von neununddreissig jahren [2]
Es ist wohl einzigartig, dass es in Japan eine Tradition gibt, welche – anstelle eines Testamentes – ein Abschiedsgedicht an das Leben verfasst.
Untersucht wird hier die Möglichkeit, Tanz nicht als Abbild von Musik oder Sprache darzustellen, d.h. nachzuempfinden, sondern beide Elemente, Tanz und Stimme, werden wie ZWEI eigenständige Instrumente behandelt.
Der Tanz wird (in der Partitur) genau wie die Stimme notiert, mit Intervallen oder Buchstaben oder auch Bewegungsskizzen. Es werden auch Laut- und Toneurythmie vermischt, manchmal in einer auch nur kurzen Sequenz hin- und hergewechselt, je nachdem, womit sich die Spannung, der Inhalt, die Form an dieser Stelle am besten vermitteln lässt.
Die Tänzerin kann dabei auch Eigeninitiative einsetzen, sie bekommt einen autonomen Spielraum, in dem sie die Bewegung im Raum, die Wege, Orte – d.h. die Choreografie (Bettina Grube) – mitgestalten kann, ja soll, da ihre Erfahrung nicht notiert werden kann (zumindest nicht von der Komponistin); Mela Meierhans kann dazu nur Anregungen geben, z. B Anweisungen wie „möglichst statisch“ oder „schnelle Abfolge“ etc.
Der Gesang soll sich auch in die Bewegung hinein begeben und umgekehrt, die Tänzerin spricht stellenweise auch.
“Was mich insbesondere fasziniert ist, dass ich so ‘Stille komponieren’ kann.
Ich habe nun das haiku in den Teilen I-VI traditioneller – d.h. ohne Improvisationsspielraum – notiert. In den Teilen VII-XII habe ich eine ähnliche Struktur gewählt, bin aber freier mit der Notation umgegangen, was immer auch eine größere Mitgestaltung der Ausführenden bedeutet. Die Teile VII-XII sind somit Variationen der Variation…
I-VI sind auch meditativer gehalten als VII-XII, welche mehr in den Raum hineingreifen.
Die inhaltliche Umsetzung des haikus hat aber noch nichts mit dem Totengedenken – Teil IV der Jenseitspentalogie – zu tun, sondern soll aufgrund der Erfahrungen mit diesen Studien weitergeführt werden.” Mela Meierhans
mit
Bettina Grube – choreografische Umsetzung, Regie
Katja Nestle – Kostüme
[1] traditionelle japanische Gedichtform; gilt als die kürzeste Gedichtform der Welt
[2] Die Kunst des letzten Augenblickes, Yoel Hoffmann, Herder, s.116